15.10.2019

Erzählnacht

Andreas Sommer ist Sagenwanderer und Mythenerzähler. Ein nicht sehr verbreiteter Beruf – auf jeden Fall in der Schweiz. «Als ich während mehreren Jahren Reisegruppen durch die Sahara führte, beobachtete ich, wie die dortigen Tuareg jeden Abend alte Sagen und Märchen erzählen», sagte Sommer am Samstagabend in der Grubenberghütte, die bis auf den allerletzten Platz besetzt war.

Inspiriert von der reichen Erzählkultur der Nomaden habe er in der Schweiz nach Überlieferungen gesucht und sei fündig geworden. «Zur Zeit der Brüder Grimm wurden auch hierzulande viele Geschichten niedergeschrieben – zum Glück, denn die mündlichen Überlieferungen verschwanden zunehmend».

Gebannt lauschten die alten und jungen Gäste in der Grubenberghütte den heimischen Sagen, Mythen und Märchen, die Andreas Sommer in breitem Berndeutsch vortrug. Bei so manchen Dialektwörtern ging ein Lachen durch die Runde. Und auch die Liebesgeschichten innerhalb der Sagen sorgten für Schmunzeln. «Halt Hübscheli, nume ned gschprängt», sagte da eine junge Frau zu ihrem Verehrer, der – wie es Sommer formulierte – «e Flueh vomene Maa» war.

Bei Kerzenlicht wurden die Geschichten immer mystischer. Wussten Sie, dass einmal zwei Feen auf der Gummfluh gewohnt haben? Die «Chüjer» stellten angeblich jeden Abend «es Gäbsli Milch» vor den Felsenturm der Wesen. Dafür sorgten die Feen für saftige Weiden und besonders schmackhaften Alpkäse. Doch als der junge Bauer Pierre es wagte, in den Felsenturm zu «spienzle», da kam am nächsten Tag sein Saanegeisslein ums Leben.

Eine andere Geschichte war die eines Mädchens, das es liebte zu «liedle», doch im heimischen Hof nicht singen durfte. Irgendwann wurde das Kind deshalb so unglücklich, dass es weit hinauf in die Berge lief, um dort aus tiefster Seele zu «liedle». An dieser Stelle der Geschichte klang Nathalie Gähwilers Stimme durch die Grubenberghütte. Sie begleitete die einheimischen Erzählungen ihres Mannes an diesem Abend mit seelenvollem Gesang, Trommel- und Gitarrenklängen.

Der Überlieferung nach traf das Mädchen auf den Hüter dieser Berge. Dieser sagte, sie könne für immer dort oben bleiben und singen, doch dafür müsse sie ihre menschliche Gestalt ablegen. Seither gibt es irgendwo in der Region ein singendes «Quelleli».

Also hören Sie bei Ihrer nächsten Wanderung doch einmal genau hin.

Text: Sara Trailovic/Anzeiger von Saanen
Fotos: Ruedi Hählen